Hohelied Idylle 1
Titel und Verfasser
1 Das Lied der Lieder, von Salomo.
Titel und Verfasser. Es ist das Lied der Lieder, das eine Lied, das alle anderen Lieder übertrifft. Das Lied ist eines der vielen, die Salomo geschrieben hat, und von den 1005 Liedern (1Kö 5,12) ist es das vorzüglichste seiner Lieder.
Erste Idylle: Hochzeitstag | Jerusalem
Die erste Idylle behandelt drei unterschiedliche Reflexionen, die sich alle am Hochzeitstag von Salomo und Sulamith ereignen. Die erste findet kurz nach der Hochzeitszeremonie statt, wo sich Sulamith auf die bevorstehende Hochzeitsfeier vorbereitet. Die zweite findet auf der Hochzeitsfeier selbst statt, und die dritte und letzte Reflexion ereignet sich in der Intimität der Brautkammer.
1. Reflexion | 1,2-8 | Sulamith bereitet das Hochzeitsfest vor
Diese Reflexion beginnt mit Sulamith im Palast, die sich auf die Hochzeitsfeier und -nacht vorbereitet, nachdem die Zeremonie stattgefunden hat.
2 Er küsse mich mit den Küssen seines Mundes, denn deine Liebe ist besser als Wein.
Sulamiths erste Worte richten sich an den Chor der Töchter Jerusalems. Damit drückt sie ihr Sehnen nach Salomo aus und die Vorfreude auf die Hochzeitsnacht. In der Folge äussert sie zwei Wünsche. Zuerst den nach einem Kuss mit Salomo, denn seine sexuelle Liebe ist besser als Wein, eigentlich ein Verlangen nach ihrem ersten Sexualkontakt, um die Ehe zu vollziehen. Das Küssen wird hier im Sinne eines Vorspiels zur Vorbereitung sexueller Liebe verwendet. Im Hohelied werden drei hebräische Wörter für Liebe verwendet, die unterschiedliche Aspekte der Liebe darstellen: dod (eros, sexuelle Liebe), ahavah (agape, Liebe als Willensentscheidung) und ra’eyah (phileo, Liebe, die auf enger Beziehung und Freundschaft basiert). Sulamiths Verlangen nach einem Kuss und die Beschreibung von Salomos Liebe als "besser als Wein" beziehen sich auf die sexuelle Liebe (dod). Das Hohelied betont, dass die Sexualität nichts sündiges ist und im Rahmen einer Ehebeziehung ein von Gott gewollter Aspekt darstellt.
3 Lieblich an Duft sind deine Salben, ein ausgegossenes Salböl ist dein Name; darum lieben dich die Jungfrauen.
In Vers 3 wird der liebliche Duft von Salomos Liebe als zweiter Grund für Sulamiths Verlangen genannt. Beim Bankett, wo nicht nur Wein, sondern auch verschiedenste Wohlgerüche den Palast erfüllen, übertrifft Salomos Liebe all dies Düfte. Der einzigartige Duft seines Namens, vergleichbar mit "ausgegossenem Salböl", steht über allem. Dies erklärt, warum die Jungfrauen, junge Frauen im heiratsfähigen Alter, sich danach sehnten, Salomos Erwählte zu werden, bevor Sulamith schliesslich auserwählt wurde diese eine zu sein.
4 Zieh mich: Wir werden dir nachlaufen. Der König hat mich in seine Gemächer geführt: Wir wollen frohlocken und uns an dir freuen, wollen deine Liebe (dod) preisen mehr als Wein! Sie lieben (ahavah) dich in Aufrichtigkeit.
In diesem Vers wünscht sich Sulamith sanft von der Liebe gezogen zu werden, anders als ihr erstes, auf sexuelle Liebe gerichtetes Verlangen. Dieser Wunsch bezieht sich auf emotionale Liebe, die sexueller Liebe Bedeutung verleiht. Sexuelle Liebe sollte gemäss der Schrift nur im Rahmen des biblischen Liebeskonzepts gelebt werden. Als Reaktion wünscht sie vom König in seine Gemächer geführt zu werden, worauf die Töchter Jerusalems sich freuen (frohlocken) an Sulamith. In diesem Vers wird zweimal das Wort "Liebe" und "lieben" verwendet, jedoch mit unterschiedlicher Bedeutung. Das erste Wort ist "dod" und meint sexuelle Liebe und das zweite ist "ahavah" und meint die Agape-Liebe (aufrichtige, herzliche und bedingungslose Liebe).
5 Ich bin schwarz, aber anmutig, Töchter Jerusalems, wie die Zelte Kedars, wie die Zeltbehänge Salomos.
6 Seht mich nicht an, weil ich schwärzlich bin, weil die Sonne mich verbrannt hat: Die Söhne meiner Mutter zürnten mir, bestellten mich zur Hüterin der Weinberge; meinen eigenen Weinberg habe ich nicht gehütet.
Sulamith spricht zu den Töchtern Jerusalems und thematisiert ihre dunkle Hautfarbe, die durch Arbeit im Weinberg entstanden ist. Gemeint ist hier ihre sonnengebräunte Haut, was zu jener Zeit nicht dem Schönheitsideal entsprach. Sulamith erklärt, dass es ihre beiden Brüder waren, die sie zur Arbeit im Weinberg gezwungen hatten. Der wahre Grund für das Handeln der Brüder wird am Ende des Hoheliedes enthüllt werden. Sie fügt an, dadurch ihren eigenen Weinberg (ihren Körper) vernachlässigt zu haben. Trotz des Kontrastes zu den hellhäutigen Palastmädchen wurde Sulamith von Salomo geliebt und begehrt, was sie an eine Episode während der Brautwerbung erinnert, in der Salomo sich als Hirte ausgab.
7 Sage mir an, du, den meine Seele liebt, wo weidest du, wo lässt du lagern am Mittag? Denn warum sollte ich wie eine Verschleierte sein bei den Herden deiner Genossen?
Hier reflektiert Sulamith rückblickend auf die Kennenlernzeit über ihre erfolglosen Bemühungen, die Identität des unbekannten Hirten (Salomo) zu ergründen. Sie fragt ihn, wo sie ihn bei seiner Arbeit finden kann, da er ihre Liebe gewonnen hat, ohne dass Salomo seine wahre Identität offenbart hatte. Ihre Sorge ist, nicht wie eine verschleierte Frau wahrgenommen zu werden, die nach einem Mann sucht (ein Bild, das mit Prostitution assoziiert ist (Vgl. Gen 38,14–15)).
8 Wenn du es nicht weißt, du Schönste unter den Frauen, so geh hinaus, den Spuren der Herde nach, und weide deine Zicklein bei den Wohnungen der Hirten.
Die Frage nach der wahren Identität des Hirten wird von den Töchtern Jerusalems enthüllt. Nachdem sie herausgefunden hat, dass es Salomo ist, muss sie sich entscheiden, ob sie Salomo heiraten und seinen Fussspuren in sein Zelt folgen will, welches offensichtlich der königliche Palast in Jerusalem ist. Das ist ein Konflikt, der gelöst werden muss. Mit dieser Belehrung und Ermahnung der Töchter Jerusalems endet die erste Reflexion.
2. Reflexion | 1,9-14 | Auf dem Hochzeitsfest
In der zweiten Reflexion sind Salomo und Sulamith zusammen bei Tisch und machen sich gegenseitig Komplimente wegen Ihrer Schönheit. Diese zweite Reflexion wird eingeleitet durch Worte Salomos, die er in den Versen 9 bis 11 an Sulamith richtet.
9 Einer Stute an des Pharaos Prachtwagen vergleiche ich dich, meine Freundin (ra’eyah).
10 Anmutig sind deine Wangen in den Kettchen, dein Hals in den Schnüren.
11 Wir wollen dir goldene Kettchen machen mit Punkten aus Silber.
Heutzutage würde vermutlich niemand seine Ehefrau mit einem Pferd vergleichen, um ihr ein Kompliment zu machen, doch in der antiken Welt sah man das anders. Die Tatsache, dass Salomo solche Worte wählt, ist von Bedeutung, da bekannt ist, dass er eine grosse Vorliebe für Pferde hatte (Vgl. 1Kö 5,6; 10,26). Zudem stammten viele seiner Pferde aus Ägypten, wie aus 1Kö 10,28-29 hervorgeht, was den Bezug zu Pharaos Stuten erklärt. Da die königlichen Pferde prächtig geschmückt waren, heben die V 10-11 Sulamiths Schönheit hervor, indem sie ihren Schmuck mit dem der königlichen Pferde vergleichen. Die herausragenden Eigenschaften von Pferden, wie in Hiob 39,19-25 beschrieben, unterstreichen diesen Vergleich.
12 Während der König an seiner Tafel war, gab meine Narde ihren Duft.
Während Salomo Sulamith mit Stuten und Juwelen verglichen hat, vergleicht sie ihn mit feinsten Gewürzen und Düften. Sulamith erzählt, wie ihr Nardenöl, gewonnen aus einer duftenden Pflanze Indiens, beim Bankett ihren Duft verströmt. Dieses kostbare Öl, das auch Maria auf die Füsse Jesu ausgoss, füllte den Raum mit Wohlgeruch, was bei Judas wegen angeblicher Verschwendung Kritik auslöste (Mk 14,3-5; Joh 12,3-5).
13 Mein Geliebter ist mir ein Bündel Myrrhe, das zwischen meinen Brüsten ruht.
Vers 13 bezieht sich auf den Brauch, Myrrhe in einem Bündel um den Hals zu tragen, um angenehm zu duften und Körpergeruch zu mindern. Diese duftende Substanz aus Indien findet in der Bibel vielseitige Verwendung: Sie wird in Ps 45,9 für Gewänder und in Est 2,12 zur Körperpflege eingesetzt. Im Buch der Sprüche (7,17) wird Myrrhe oft mit sexueller Leidenschaft in Verbindung gebracht. Da Salomo sowohl die Sprüche als auch das Hohelied verfasst hat, symbolisiert die Myrrhe hier ebenfalls diese Bedeutung. Salomo wird als ein solches Myrrhenbündel dargestellt, welches Wohlgeruch verbreitet.
14 Eine Blütentraube vom Hennastrauch ist mir mein Geliebter, in den Weinbergen von En-Gedi.
Hier wird Salomo mit einer duftenden Blütentraube des Hennastrauchs verglichen. Der Hennastrauch ist eine Zypresse und die Hennablume eine Pflanze mit duftenden, gelben und weissen Blüten. Während des Hochzeitsbanketts, das zwischen Hochzeitszeremonie und Hochzeitsnacht stattfindet, beschreiben nun Salomo und Sulamith jeweils die Schönheit des anderen und wie zufrieden sie miteinander sind.
3. Reflexion | 1,15 – 2,7 | In der Brautkammer
In der dritten Reflexion begibt sich das frisch verheiratete Paar ins Schlafzimmer, um die erste gemeinsame Nacht zu erleben. Ihre erste sexuelle Vereinigung wird hier auf eine erotische und zugleich schöne Weise beschrieben.
15 Siehe, du bist schön, meine Freundin, siehe, du bist schön, deine Augen sind Tauben.
Salomo nennt Sulamith in der Brautkammer Freundin (ra’eya) und beschreibt ihre Schönheit, insbesondere die Augen haben es ihm angetan.
16 Siehe, du bist schön, mein Geliebter, ja, holdselig; ja, unser Lager ist frisches Grün.
17 Die Balken unseres Hauses sind Zedern, unser Getäfel Zypressen.
1 Ich bin eine Narzisse von Scharon, eine Lilie der Täler.
Sulamith beschreibt zunächst die Schönheit vor ihren Augen (Vers 16a) und dann die von Salomo hergerichtete Brautkammer, geschmückt mit Zedern und Zypressen aus Nordgaliläa, ihrer Heimat (V 16b–17). Salomo hat diese Hölzer ausgewählt, um ihr ein Stück Heimat zu geben. Die einzigartige Atmosphäre der Brautkammer sollte nur ihnen beiden gehören. Beeindruckt von Salomos Mühe, fühlt sich Sulamith unwürdig und vergleicht sich mit einer einfachen Blume vom Lande, mit einer Narzisse (2,1), die in der Scharon-Ebene verbreitet war (Vgl. Jes 35,1), und mit der Lilie, die man in den Tälern Israels findet.
2 Wie eine Lilie inmitten der Dornen, so ist meine Freundin inmitten der Töchter.
Salomo unterbricht Sulamiths Vergleich und bezeichnet sie stattdessen als eine Lilie unter Dornen, um hervorzuheben, dass sie zwar eine einfache Blume vom Land sein mag, aber in ihrer Schönheit alles um sie herum übertrifft. Der Begriff "Dornen", auf den er sich bezieht, steht nicht für einzelne Dornen an Blumen wie Rosen, sondern für dornige Pflanzen oder Dornbüsche, die weit verbreitet sind (Vgl. 2Kö 14,9). Salomo betont damit, dass Sulamiths einfache Schönheit und Unschuld sie von allen anderen Frauen abheben, ähnlich wie sich eine Lilie in den Tälern von den Dornsträuchern abhebt.
3 Wie ein Apfelbaum unter den Bäumen des Waldes, so ist mein Geliebter inmitten der Söhne; ich habe mich mit Wonne in seinen Schatten gesetzt, und seine Frucht ist meinem Gaumen süß.
Dieser Vers beschreibt den Beginn der sexuellen Vereinigung mit dem Vorspiel, bis die sexuelle Leidenschaft geweckt ist. Äpfel waren in der Welt des Altertums erotische Symbole, und das sind sie auch hier an dieser Stelle.
4 Er hat mich in das Haus des Weines geführt, und sein Banner über mir ist die Liebe.
Durch das beschriebene Vorspiel wird skizziert, wie die sexuelle Leidenschaft die Liebenden bis zu einem Punkt der Trunkenheit führt. Dieser Zustand wird mit dem Begriff "Weinhaus" umschrieben.
5 Stärkt mich mit Traubenkuchen, erquickt mich mit Äpfeln, denn ich bin krank vor Liebe!
Nun erreicht ihre Leidenschaft das Stadium, in dem die körperliche Vereinigung als Mittel zur Erfüllung des Verlangens angesehen wird. Die Erwähnung von Äpfeln und Traubenkuchen, beides Symbole der sexuellen Begierde, betonen das starke Verlangen nach Befriedigung. Somit trachtet Sulamith jetzt im Wesentlichen nach sexueller Befriedigung durch den Geschlechtsakt selbst, nachdem sie durch das Vorspiel erregt worden ist. Darin besteht die Bedeutung ihrer Aussage "ich bin krank vor Liebe".
6 Seine Linke ist unter meinem Haupt, und seine Rechte umfasst mich.
Nun wird das Verlangen Sulamiths erfüllt und es kommt zur ersten sexuellen Vereinigung zwischen den beiden. Salomo umarmt seine Sulamith und nimmt sie zu sich und vollzieht damit die Ehe. Das tiefe Verlangen nach Befriedigung, das zuvor thematisiert wurde, findet hier seine Erfüllung.
7 Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, bei den Gazellen oder bei den Hirschen des Feldes, dass ihr weder weckt noch stört die Liebe, bis es ihr gefällt!
Diese Erfahrung mündet in eine Ermahnung von Sulamith, in der sie auf die Bedeutung des rechten Umgangs mit sexueller Leidenschaft hinweist. Das Wort "weckt" bedeutet die Leidenschaft erregen, und "gefällt" heisst befriedigen oder erfüllen. Basierend auf ihren Erlebnissen in den Versen 5 und 6 warnt Sulamith davor, sexuelle Leidenschaft zu wecken, bevor es möglich ist, sie auch zu befriedigen oder zu erfüllen. Ein verfrühtes Wecken der Leidenschaft führt zu Frustration. Mit der sexuellen Leidenschaft sollte man mit äusserster Vorsicht umgehen, sie sollte nicht vor dem rechten Zeitpunkt erregt werden.
Dieser Refrain kommt insgesamt drei Mal vor im Hohelied (2,7; 3,5; 8,4). Wenn auch in unterschiedlichen Umständen, mahnt der Refrain jeweils zu einem Gott gewollten und wohlgefälligen Umgang mit der Sexualität.
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